„Zukunft der Orthopädie“ – Experteninterview mit Professor Thermann
Wie steht es um die Orthopädie heute und wie wird sie wohl in zehn, in 15 Jahren aussehen, wenn die Digitalisierung der Medizin immer weiter fortschreitet? Wir haben Professor Dr. med. Thermann vom Internationalen Zentrum für Orthopädie gefragt. Prof. Thermann ist Facharzt für Chirurgie und Unfallchirurgie und ärztlicher Direktor der ATOS Klinik Heidelberg. Der Mediziner kann auf eine interessante Zeit als Knie- und Fußspezialist zurückblicken.
Sehr geehrter Herr Professor Thermann, welche Behandlungen führt man in der Orthopädie am häufigsten durch und mit welchem Erfolg?
Prof. Thermann: Am häufigsten werden endoprothetische Operationen am Hüft- und Kniegelenk durchgeführt. Die Erfolgsquote liegt bei 90% und mehr. Ferner sind sportmedizinische Operationen an der Tagesordnung – am häufigsten arthroskopische Operationen, Kreuzbandoperationen, knorpelrekonstruktive Operationen. Hierbei liegen meist verschiedene Schweregrade von Verletzungen vor oder gar Komplexverletzungen bei Kreuzbandrissen mit Knorpel- und Meniskusschäden, sodass eine differenzierte Analyse der einzelnen Erfolgsquoten notwendig wäre. Grundsätzlich ist zu sagen, dass auch die Kreuzband- und Meniskusoperation eine Erfolgsquote von über 85% haben. Das gilt aber in erster Linie für das vordere Kreuzband. Knorpeloperationen und Rekonstruktionen von Knorpelschäden sind sehr komplex. Oft handelt es sich hierbei um unterschiedlichste Läsionen (Verletzung oder Störung der Funktion der betroffenen Stelle). Die Erfolgsquote bei kleinen Standardläsionen liegt inzwischen bei 80-90% – dabei handelt sich um einen Prozentsatz, der bei einer guten chirurgischen Therapie erreicht werden kann und sollte. Anders sieht es im Fuß und Sprunggelenk aus. Hier zählen insbesondere die Hallux- (Ballenzeh) und die Vorfußoperationen zu den häufigsten Operationen, die durchgeführt werden. An unserer Heidelberger ATOS Klinik liegt der Schwerpunkt auf komplexe Fuß- und Sprunggelenkschirurgie, und weniger auf der Vorfußchirurgie. Es wurden in den letzten 10 Jahren überwiegend und im internationalen Vergleich knorpelerhaltende Operationen, Sprunggelenksprothesenoperationen und vor allen Dingen Achillessehnenoperationen durchgeführt und an unserer Klinik endoskopische, minimalinvasive Behandlung inauguriert. Die Erfolgsquoten sind sehr zufriedenstellend: Sprunggelenksendoprothetik hat bei uns eine Haltbarbeit von etwa 12 bis 15 Jahren, was einen internationalen Spitzenwert darstellt. Und Halluxoperationen setzen bei uns eine optimale Rekonstruktion der Beinachse (Alignment) voraus, welche die Ursache der Problematik ist.
Gelenkersatz spielt mit zunehmendem Alter eine immer wichtige Rolle. Und die Endoprothetik wird immer weiter optimiert. Wie kann man sich den Ersatz seines Gelenkes in Zukunft vorstellen?
Prof. Thermann: Allein in den letzten 20 Jahren gab es eine deutliche Optimierung in der Instrumentation, aber auch im Werkstoff und Design. Auch das anatomische Design, welches sich an der anatomischen Kinematik anpasst, ist perfektioniert worden. Allein in den letzten 10 Jahren wurde durch die Digitalisierung – etwa einer virtuellen Darstellung der Gelenke, insbesondere des Knie- und Hüftgelenkes – viel gewonnen, wenn nicht sogar eine kleine Revolution eingeleitet. Das Wesen der digitalen und künstlichen Intelligenz – im Bereich der Endoprothetik – bereichert nach entsprechender Einarbeitung und Erfahrung, das Know-how des Operateurs, keine Frage. Bestimmte körperliche Stellen, die nur schwer mit dem operativen Instrument erreichbar sind, lassen sich durch die virtuelle Analyse und die darauffolgende Umsetzung durch den Roboterarm bzw. der Navigationssysteme präzise erreichen. Dies ist zumindest aktuell bereits in der Bauchchirurgie und Urologie möglich (z.B. das Da-Vinci-Operationssystem). Die robotergestützte Navigation in der Endoprothetik oder auch Wirbelsäulenchirurgie zeigt uns eine neue Möglichkeit, die richtungsweisend für zukünftige Arbeiten im Operationssaal sein wird. Es ist zu erwarten, dass die Systeme entsprechend eines Industrieroboters soweit optimiert werden, dass die orthopädischen Chirurgen eine Vereinfachung ihrer komplexen Arbeit erleben dürften – zumindest über die nächsten Jahre im Hinblick auf die Erstimplantation. Allerdings bleiben aufwendige operative Behandlungen, wie Wechselprothesen nach Implantatversagen oder Lockerung, gänzlich in den erfahrenen und geschickten Händen des Operateurs.Der Nachteil könnte sein, dass die KI (Künstliche Intelligenz) in den OP-Sälen die Expertise des einzelnen Operateurs immer weiter in den Hintergrund rücken lässt und der Patient nicht den Arzt seines Vertrauens wählt, sondern die „Maschine“. Spezialkliniken wie die ATOS Klinikgruppe, die sich gerade daruch abhebt, herausragende Experten unter einem Dach zu führen, werde es so nicht mehr geben. Das Alleinstellungsmerkmal ist dann vielleicht nicht mehr seine chirurgische Expertise, sondern die Persönlichkeit, die den Patienten auf dem Weg zur Heilung begleitet. Den handwerklichen Teil übernimmt der Roboter. In Design und Werkstoff der Zukunft wird die vorhergehende CT-Untersuchung mit Software evaluiert, sodass hauptsächtlich custom made-Knieprothesen implantiert werden können, die direkt aus 3D-Druckern kommen. Zum jetzigen Zeitpunkt arbeiten wir noch mit robusten metallischen Implantaten, die in keiner Weise dem Elastizitätsmodul des Knochens entsprechen. Es ist davon auszugehen, dass hier völlig neue Werkstoffe, mit knochenähnlichen Elastizitätsmaterial und damit physikalischen Eigenschaften von Knochen auf den Markt kommen und implantiert werden. Des Weiteren stellt sich die Frage, in welcher Form man Prothesen bei abgenutzten Oberflächen im Sinne eines individuellen Coatings zukünftig neu besetzt. Hierbei ist auch über gezüchtete 3D-gedruckte Knorpelknochen und sogenannte Makrotransplantate zu denken, welche die Endoprothetik in der jetzigen Form sicherlich weiter verändern werden.
Die medizinischen Fachbereiche wie Dermatologie, Pathologie und Radiologie profitieren stark von der Digitalisierung in der Medizin. Wie sieht es in der Orthopädie aus, wo ist da der Vorteil?
Prof. Thermann: Die Digitalisierung zeigt uns heute schon, dass wir kinematische Ketten im Knie zur Implantation von Prothesen genau erkennen und daraufhin die Prothesen entsprechend der digitalen Werte implantieren können. Vorstellbar ist, dass unsere Untersuchungstechniken in einem dreidimensionalen Untersuchungsapparat digital erfasst werden, also Tools die Bewegungen, Stabilitätstestungen, Ausmaß der Bewegung in den verschiedenen Ebenen usw. erfassen und dann unabhängig vom Untersuchenden, „objektivierte“ Zahlen liefern. Dazu wird sich die Radiologie durch die Digitalisierung, zum Beispiel durch Diagnosealgorithmen erheblich verbessern. Die Qualität der Therapie ist dann nicht mehr vom einzelnen Untersuchenden und seinen Erfahrungen abhängig. Allerdings besteht der Nachteil der zunehmenden Digitalisierung darin, dass sich das Arzt-Patient-Verhältnis weiter differenzieren wird und ein Kontakt nicht mehr in dem Maße stattfinden kann.
Wagen wir mal ein Blick in die Zukunft: Wo sehen Sie den Orthopäden in einem oder zwei Jahrzehnten?
Prof. Thermann: Meiner Vorstellung nach wird das prinzipielle Officewesen, wie wir das heutzutage aus den Praxen kennen, aus verschiedenen Aspekten revolutioniert werden: Der erste ist, dass es virtuelle Sprechstunden geben wird, womit der Standort des Patienten unerheblich wird. Es werden alle postoperativen Befunde, soweit die Patienten nicht vor Ort sein können, in einer virtuellen Untersuchung erfolgen und entsprechende Therapieempfehlungen gegeben, ohne dass der Patient sein Zuhause dafür verlassen muss. Patienten, die zur Operation anstehen, werden in einer visuellen 3D-Präsentation dem Operateur noch einmal vorgestellt. Ich kann mir vorstellen, dass es in der Speicherung und Wiedergabe von dreidemensionalen Bildern, sprich in der in der Holographie, deutliche Fortschritte geben wird. À la longue werden wir den Patienten in etwa 15 Jahren holographisch direkt vom Schreibtisch aus betrachten können, wie wir das zum Beispiel aus dem Sciencefiction Film „Star Wars“ kennen. Der Patient kann dann mithilfe der modernsten Technologie in einem völlig anderen Raum durch verschiedene IT-Geräte online für den Arzt erfasst werden.
Es ist auch vorstellbar, dass orthopädische Operationen, auch arthroskopische Eingriffe, Frakturversorgung oder endoprothetische Eingriffe, ähnlich wie das heute bekannte Da-Vinci-Operationssystem, mit einem Joystick von überall her durchgeführt werden.
Irgendwann werden noch individuellere komplexe Daten zur longitudinalen Entwicklung erhoben und es wird möglich sein, mithilfe eines künstlichen Intelligenz-Algorithmus den natürlichen Verlauf der Strukturen hochzurechnen, um vorauszusehen, zu welchem Zeitpunkt welche Operation notwendig sein muss, um das Fortschreiten einer Läsion und ihre negativen Auswirkungen zu verhindern.
Die Qualität der Versorgung wird in der Breite im Mainstream besser werden. Es werden weniger Kunstfehler auftreten, jedoch wird sich die Entwicklung einer Zweiklassen-Gesellschaften noch extrem ausweiten. Das wird daran liegen, dass man natürlich im Bereich der Wertschöpfung medizinische Profit-Centers genau kalkulieren kann und somit feststellen wird, wo die größte Wertschöpfung liegt und die wird nicht von jedem bezahlt werden können. Es ist zu befürchten, dass der gestandene, vertrauensvolle Orthopäde, der seine Patienten immer nachhaltig vertrauensvoll versorgt hat, nicht nur in orthopädischer Hinsicht, der Vergangenheit angehören wird. Dies wird bedingt auch dadurch, dass wir einen soziokulturellen Wandel der heranwachsenden Leistungsträger (Generation Y, Generation Z) erleben, die den Arztberuf in einer anderen grundsätzlichen Philosophie und Ethik sehen.
Vielen Dank für das ausführliche Gepräch und die spannenden Einblicke in das Fachgebiet der Orthopädie heute und in Zukunft, Herr Professor Thermann!
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